Leseprobe:

Peter Reutterer: Der Filmgänger (Erzählung, Bibliothek der Provinz, 2002)


Warum fährst du so oft fort, klagt Anna. Warum sprichst du nicht aus, dass du umstrichen sein willst. Sie schickt sich an, von oben nach unten, von unten nach oben zu kriechen. Ist es so recht, sagt sie, ich bin lernfähig. Phil sieht die Wände empor, an denen keine Filmbilder reflektiert werden. In den Filmen sehen sich Mann und Frau in die Augen, haben Zeit, voreinander zu verweilen. Beziehungsarbeit, sagt der Therapeut von der Familienberatung. Phil nickt Anna zu. Ich geh nur ins Kino, ich liebe das, sorry. Anna sieht ihm nach, ist aber insgeheim froh, nicht wieder einen Autorenfilm mit ansehen zu müssen. Phil flieht ins Dunkel am Zelluloidsubstrat. Fern vom Gerumpel lichtloser Lungenfiguren feiert Kino Erotik der Langsamkeit. Haut, die bei sich ist. Lippen, die ohne Mundgeruch zupacken. Das Alltagstheater ist ein schlechtes Klischee. Nach den Kraftakten an den Zöglingen ein wenig Bettelei um ein wenig Sex. Manche Tage vergisst Phil, Worte mit Anna zu wechseln. Er lässt seine Schritte sich im Gewirr der Gassen verlieren. Er wird nicht zur verabredeten Stunde heimkommen. Warum sollte er sich wegen eines abgestandenen Wortgeplänkels den Tag vergrauen.
Comedian harmonists: Der Glaube an stimmige Linienführungen wird am Badestrand gemalt. Zumindest am Swimmingpool. Wenn das Freudenmädchen ein Bein hebt, kann der Comedian ihre Schamlippen lecken. Ihre Haare sind bedienerfreundlich geschoren. Die comedians jubeln der Liberty zu, die ihre Fackel zum Himmel streckt. Der Himmel bleibt cool and blue. Die Comedians vergessen, dass drei von ihnen Juden sind. Mit hellem Swing und hölzernem Wort habe ich die Fassaden aus dem Lot gebracht. Erna läuft auf dem Perron um ihr Liebesglück. Die Möglichkeit an Linien zu Hause zu sein. Die Unmöglichkeit an Linien zu Hause zu sein. Das Spiel wird neu gesetzt. Das Spiel ist immer schon aus.


   Verzeih, ich bin auf der Suche, erklärt Phil Anna. Und trägt die Koffer zur Bahn. Die ferne Stadt ist voller Spaziergänge. Samt an der Theatergalerie. Wie wäre ein Tanzschritt auf der Bühne. Becketts Sätze setzen Lacher über die Köpfe. Die Hände Doras im Samt. Absurd, aber gewiss. Die Fahrt durch die Nacht sollte nicht zu Ende gehen, während Phil sich an den Kopfstützen in Bilder verlehnt. Geschichten einander zureden, aus vergangenen Tagen, aus künftigen. Wein sich in den Kopf setzen, Rauch in die Augen blasen. Neben eine Frau gesetzt sein, am nächsten Morgen krank. Noch nicht bin ich genesen, Lungenentzündung, sagt die Frau. Phil kommt noch einmal an ihr zu sitzen. Eine doppelte Dosis an Wein und Rauch, als könnte so ein entscheidendes Wort gesetzt werden. Aber eine Packung Marlboro macht noch keinen Sommer. Phil geht davon, keinesfalls überrascht, dass die Geschichtenschwünge nicht real stattfinden. Marco, klagt er am Telefon, mich zerbeißt die Sehnsucht. Dessen Augen aber versacken im büromüden Stundenplan der Tage. Nein, ich habe schon lange nichts mehr geschrieben, erzählt Marco. Schale Sätze der fernen Stadt. Über den Tisch geschoben, bevor man sich kaum umarmt. Filmkonzentrate sind weniger gleichgültig als Freunde. Sie müssen ihren Geschichten nachkommen. Auf Tod und Leben. Den Lungentieren genügt es, ihr Leben zu verrichten.

Sliding doors: Blond und lang ihre Beine. Süß wie ein Bonbon schmeckt die Haut. Der Mann ertränkt seinen Kummer abends in Pointen. Altgeworden die wirkliche Geschichte. Gehen im Spiel einer Lichterstadt. Johns Geistesblitze gegen Lebensmüll. Magic Gwyneth Paltrow. Nach dem Gesicht des Mannes ist sie aus, mit einem Lachen an der aut. Zuletzt ein Todesfall. Nothing but the false end of an excellent story.


Die Filme werden in die Wirklichkeit kippen. Film macht sich an den Cut für die nächsten Wochen. Er entwirft sich als Protagonisten. Einer, der schmiegsame Stoffe trägt und sich geschmeidig bewegt. Movielight verbannt Krähenfüße. Dora hätte ihre Augen nicht in den seinen ruhen lassen sollen. Sie hätte ihre Hände nicht an seine Gedichte legen sollen. Das letzte Mal ist er weggestürzt, direkt aus einer Umarmung. Er wollte zuerst den Grobschnitt für seine Geschichte fertig haben. Dann erst de Kippschwung to reality. Phil schließt die Augen. Wenn sie sich auszieht, sollten ihre Brüste jung geblieben sein. She should be moving. Beide Liebenden sollten wie Kinder einander kosten, zugleich aber sollten sie die Versonnenheit eines Philosophen beherrschen. Phil verschiebt das Rendezvous weiter hinein ins Jahr. Immer wieder imaginiert er Dora nackt, entwirft ein Szenario für das erste Nacktsein voreinander. Dann geht er aus, um sich hellblaue Jeans zu kaufen. Er will noch nicht Hand an die Frau gelegt haben.

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