Leseprobe:

Peter Reutterer: Schräglage (Satiren, Bibliothek der Provinz, 2007)

Ferienzeit

„Urlaubszeit ist Lesezeit“, verkündet Guntram vor der Abreise
und hält seinen neu erworbenen sechshundertseitigen
Roman hoch. „Der neue Bestseller von Stan Green: „Der
Cervisia-Code!“ Wieder ein unglaubliches Meisterwerk des
intelligenten amerikanischen Intellektuellen Stan Green. Es
geht darin um einen geheimen Orden von Bierversilberern.
Der Mord an neununddreißig Cervisiaargentariern wird
haarklein geschildert, letztlich aber rätselt man um den
Verbleib eines Milliarden Dollar werten Bierrezeptes, und
der Leser ist eingeladen, mitzufiebern und mitzuermitteln.
Guntram vergeht in Vorfreude auf den Urlaub. Das liebt er
so an den Familienurlauben: Während er seine historischen
Thriller verschlingt, spürt er die Lebendigkeit seiner Familie
rundum, fühlt sich beim Lesen gut aufgehoben.
Am Badestrand ist es gar nicht so einfach, die bestmögliche
Liegeposition beim Lesen zu finden. Die Wiese ist hart,
man kann das Haupt nicht stundenlang in die Hand stützen.
Nach vielen Probestellungen lagert Guntram schließlich
sein Lesehaupt auf den blauen Ball seines Kleinsten. So
kann er den Kopf bewegen, ist dennoch sehr gut abgestützt.
Schon am ersten Tag wird er auf Seite hundert angelangt
sein.
Sohn Jakob saust über die Badewiese, Guntram hört ihn
aus der Ferne seiner Lesewelt dahintapsen, während Gattin
Gundula dem Kleinen nachsieht und nachhopst. Die größere
Tochter Monika zischt ins Wasser, vergisst den nassen
Badeanzug zu wechseln. Die Gefahr einer Unterleibsverkühlung
oder einer Halsentzündung ist gegeben. Aber dafür
hat Mutter Natur Mütter hervorgebracht, dass sie sich um
die Misslichkeiten der Kleinen umsehen. Er genießt Gundulas
Zetern, ja, die Kleine soll etwas dazulernen. Während
Guntram wieder einmal vor Familienglück aufseufzt, wird
von der Biermafia eben ein Verräter im Münchner Eisbach
ertränkt.
Manchmal fragt sich Guntram, weshalb seine Gattin so
blass aussieht, wo sie doch den ganzen Tag in der Sonne
verbringt, um die Kinder zu beaufsichtigen. Er bekommt
alles genau mit, manchmal positioniert sich Gundula so
ungeschickt, dass zu viel oder zu wenig Schatten auf ihn
fällt. Aber solche Unachtsamkeiten verzeiht Guntram, gewinnt
ihnen sogar Positives ab. Auf diese Weise kann er
nicht nur die Kinder hören, sondern auch die eigene Frau
spüren. Fast wie ein Kuss fühlt sich ihr Schatten auf seiner
Nase an. Zum Niedersetzen oder tatsächlich Küssen kommt
die Frau sowieso kaum, denn wenn Monika ihre Jause geschnappt
hat, muss Gundula unverzüglich Jakob packen,
damit er nicht irgendwo abstürzt. Guntram schätzt diese
Lebendigkeit seines Familienlebens. Erst so versinkt er so
richtig in die historische Welt, die Stan Green zum Greifen
lebendig werden lassen vermag. Genau diese Kinderaction
steigert die Action eines Stan Green und macht den wirklichen
Erlebniswert eines gemeinsamen Urlaubes aus.
Schon beim Frühstück ist Guntram von seiner Familie
entzückt. Jakob heult, weil er vom Klettergerüst gerutscht
ist. Gundula hat natürlich den Verband griffbereit, muss
nur die paar Schritte hinlaufen, aus den Augenwinkeln genießt
Guntram das Schauspiel. Ein Wärmegefühl durchrieselt
ihn, er weiß, er ist Vater zweier lebendiger Kinder und
Gatte einer fürsorglichen Gattin. Guntram wird das Frühstück
noch genießen, wenn sich Gundula mit den Kleinen
schon ins Appartement zurückgezogen hat, um sie im Bad
zu betreuen. Man weiß ja, sie putzen sich noch nicht selbständig
die Zähne, geschweige denn, dass sie sich einmal
die Haar waschen, die kleinen Hosenscheißer.
So blinzelt Guntram weiterhin zufrieden in die Sonne,
Jakobs Wunden werden wie immer bald verheilt sein. Mit
Schwung lässt er sich noch einmal in Greens Cervisia-Code
fallen. Stan Green hat ein mitreißendes Werk geschaffen.
Zum dritten Mal sind die geheimen Bierversilberer in ganz
Europa darauf aus, die Oberhand über alle Brauereien und
Wirtshäuser zu gewinnen. Um ihren Gewinn zu maximieren,
versuchen sie möglichst alle Heranwachsenden alkoholabhängig
zu machen. Das ist in den Gebirgstälern Österreichs
und Deutschlands nicht so schwierig, weil dort aus
Brauchtumsgründen Bier und Schnaps an alle
Alter verabreicht werden. Plötzlich kumulieren in diesem
cervisianischen Geheimorden die Morde. Nicht zufällig ist
ein nicht kooperativer Gastwirt aus Oberbayern erschlagen
worden. Hat er versucht, das milliardenschwere Geheimrezept,
den Cervisia-Code, an sich zu reißen? Guntram stößt
begeistert einen Jubelschrei aus: Die kreative Potenz von
Stan Green überschlägt sich in grandiosen Kapriolen. Die
übrigen Frühstücksgäste haben sich erschrocken wegen
Guntrams Brüller umgewendet. Nur Gundula hat in ihrem
Appartement wegen des Kindergeschreis nichts gehört.
Nach einiger Zeit folgt Guntram leiblich und geistig
gesättigt seiner Familie nach. Die Kinder werden hoffentlich
schon geduscht sein, manchmal stinken sie ja doch, was
man von guten Büchern nicht behaupten kann. Und hoffentlich
hält Gundula diesmal den ganzen Urlaub durch.
Das letzte Mal hat sie schon nach fünf Tagen gekränkelt.
Plötzlich ist sie am Morgen mit einem Halstuch dagestanden
und hat ein wehleidiges Gesicht gezogen, es war recht
despektierlich. Diesmal aber hat er vorgesorgt: Er verabreicht
seiner Frau jeden Tag zehn Tropfen Toxiloges und
zehn Tropen Metavirulent zur Stärkung der Abwehrkräfte.
So wird sie wohl durchhalten und er wird die sechshundert
Seiten in dieser Ferienwoche bewältigen.

Nur ein Missverständnis

Meine Erfahrung aus der psychotherapeutischen Praxis
zeigt deutlich, dass sich Mann und Frau viel zu oft übereinander
grämen, anstatt das geschlechtliche Anderssein des
anderen mit ihren psychischen Implikationen zu akzeptieren.
Man verlangt ja auch nicht von einem Einbeinigen, dass
er auf zwei Beinen geht oder von einem Schwachsinnigen,
dass er logische Prüfungsaufgaben besteht.
Der erste Fallbericht möge das verdeutlichen. Ein Mann
kam zu mir in der Praxis, seine Kränkung war nicht zu
übersehen: seine Trauer hatte ihm bereits schwarze Tränensäcke ins
Gesicht gegraben. Seine Frau würde, seit er mit ihr zusammen
wäre, beim Sex von ihren Einkäufen oder ihren Erlebnissen
vom Tage erzählen. Als gingen sie seine Bemühungen
nicht das Geringste an. Der gute Mann hatte sich zwanzig
Jahre lang gequält, weil er diese Plauderei beim Sex als
persönliche Geringschätzung wertete. Ich musste ihn lediglich
darüber aufklären, dass dieses Phänomen nichts mit ihm
zu tun habe, sondern mit der intellektuellen Veranlagung
jeder Frau. Ein weibliches Gehirn ist einfach zu mehreren
Dingen gleichzeitig fähig. Deshalb solle ein Mann nicht
glauben, wenn eine Frau während des Koitus mit ihrer
Freundin telefoniert, sie wäre nicht bei der Sache. Ich kenne
sogar Fallbeispiele, wo eine Frau mit ihrer Freundin im
Kino war und gleichzeitig zu Hause mit ihrem Mann Sex
hatte. Nur die Männer sind so geartet, dass sie bei geringsten Ablenkungen
oder auch ablenkenden Gedanken schon ihre Potenz verlieren.
So kam eine Frau einmal fürchterlich verzweifelt zu mir,
weil ihr Mann sie nicht mehr begehre. Schließlich stellt sich
die Krise als eine jahreszeitliche heraus. Die braune Haut
seiner Frau hatte den Mann nämlich an die braunen Lederüberzüge
seines Sportwagens erinnert. So assozierend grämte
sich der Mann ständig über unerledigte Wartungsarbeiten
an seinem teuren Wagen, sodass ihm keine erotische Zuwendung
an die Frau mehr möglich war. Durch die Ablenkung
verflüchtigte sich seine Sexualkraft. Denn Männer
können eben nur immer an eine Sache denken. Und meist
denken sie auch nur an das Eine.

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